DIE ZEIT
Die Welt hinter Moby Dick
Andrew Delbancos neues Buch über Herman Melville kann die Biografie des amerikanischen Erzählers nicht ergänzen. Dafür lockt es uns ins politisch bewegte New York des 19. Jahrhunderts
Von Friedhelm Rathjen
Für Biografen ist Herman Melville Chance und Albtraum zugleich. Eine Chance ist er, weil sein Leben alles enthält, was man für eine ebenso spannende wie vielschichtige Biografie braucht: Höhenflüge und Frustrationen, Erfolge und nachhaltiges Scheitern, abenteuerliche Reisen in zuvor gänzlich unbekannte Weltgegenden und Jahre häuslicher Stille, turbulente Zeiten und eine stetig sich wandelnde schriftstellerische Kreativität, die auf diese Zeiten reagiert. Ein Albtraum aber ist das Unterfangen, über diese zuzeiten schillernde Figur, zuzeiten stumpfe Figur eine Biografie zu schreiben, weil über das grobe Gerüst hinaus gar so viel von ihm nicht bekannt ist und weil das wenige, was man herausbekommen kann, schon bekannt und dokumentiert ist.
Alles, was bekannt ist, steht in der unübertrefflichen Melville-Biografie von Hershel Parker, zwei großformatigen Tausendseitern, die vermutlich nie auf Deutsch erscheinen werden. Das müssen sie auch nicht, denn die wahren Melville-Fans lesen Parkers Wälzer im Original, und für alle anderen lässt sich das, was darin steht, auch sehr viel knapper darstellen. Alexander Pechmann kommt in seinem 2003 erschienenen Buch über Melvilles Leben und Werk mit 350 Seiten aus; unwesentlich mehr benötigt Andrew Delbanco für sein Buch über – wie der Untertitel der Originalausgabe richtig formuliert – Melvilles Welt und Werk, das nun deutsch unter der irreführenden Bezeichnung Biographie erschienen ist. Delbanco schreibt (wie Pechmann) ausführlich über Melvilles Romane, Erzählungen und Gedichte, die er uns in bisweilen etwas langatmigen deutenden Nacherzählungen präsentiert, und er schreibt (ausführlicher als Pechmann) über die Welt, in der Melville lebte. Melvilles Leben selbst ist über weite Strecken nur indirekt präsent, gewissermaßen als Membran, die die Grenze zwischen Welt und Werk markiert: Zeitgeschichte verwandelt sich in Literatur, weil ein Autor in ihr lebt und aus ihr heraus schreibt. Wo aber bleibt dabei sein Leben?
»Die Ereignisse seines Alltagslebens« ließen sich »nicht einmal mehr ansatzweise ermitteln«, bekennt Delbanco gleich auf den ersten Seiten und macht Hoffnung, er könne uns »allenfalls an den Rand seines Innenlebens« führen. Dass die Faktenlage spärlich ist, beklagt Delbanco gar nicht weiter, ist es doch keineswegs sein Ziel, »den Vorrat an Fakten über Melvilles Leben zu vergrößern« – er erzählt knapp das wenige nach, was sicher bekannt ist, und wendet sich sodann dem Werk und seiner Bedeutung zu.
Wir erfahren also wieder, dass Melville in eine großspurige Familie hineingeboren wurde, die jedoch nach Bankrott und Tod des Vaters in nimmerendende Bedrängnis geriet, weswegen der junge Hermann (der seinem Vater zufolge ohnehin »sprachlich zurückgeblieben« war und über »eine etwas schwerfällig Auffassungsgabe verfügte«) nur eine dürftige Schulausbildung erhielt und sich früh nach eigenen Einkünften umsehen musste. Wir hören von den fünf Jahren zur See, die ihn bis in die Südsee (vielleicht auch »unter Kannibalen«) führten und anschließend ihren Niederschlag in den Romanen Typee und Omoo fanden, aber wir werden »nie erfahren, wie sehr Melville sich für Typee auf eigene Erinnerungen verließ«. Wir lesen von Melvilles allzu kurzer Karriere als Erfolgsschriftsteller und seiner Freundschaft mit dem Kollegen Hawthorne, aber »Einzelheiten ihrer Gespräche werden wir nie erfahren«, und auch eine »detaillierte Rekonstruktion« der Entstehung des Meisterwerks Moby-Dick sei »nicht möglich, da weder das Manuskript noch irgendwelche Notizen erhalten sind«. Wir müssen uns erneut der Tragödie des berserkerhaft schaffenden Autors aussetzen, der mit seinem Meisterwerk bei Publikum und Kritik scheitert, für das wenige, was er danach noch veröffentlicht, für verrückt erklärt wird und die letzten Jahrzehnte seines Lebens verdämmert, aus finanziellen Gründen gezwungen, einen schlecht bezahlten Posten als Zollinspektor anzunehmen, für den er denkbar ungeeignet ist, da ihn die gewerbeübliche Bestechlichkeit anwidert.
Viele dieser letzten Jahre verwendet er auf die Niederschrift des Versepos Clarel, »eine heilsame Disziplin für einen Schriftsteller, dessen Erfindungskraft nahezu erschöpft war«. Clarel erscheint in einer Auflage von 350 Exemplaren, von denen ein Drittel verkauft, der Rest eingestampft wird; den Gedichtband Timoleon lässt Melville kurz vor seinem Tod in einer Auflage von 25 Exemplaren drucken; selbst Moby-Dick trägt ihm zu Lebzeiten keine 600 Dollar ein.
Die äußere Bilanz dieses Schriftstellerlebens sieht desolat aus: zwanzig bedrückte Jugendjahre, fünf exzessive Wanderjahre, zwölf öffentliche Jahre als zunächst erfolgreicher, dann verhöhnter Schriftsteller, schließlich dreieinhalb Jahrzehnte der Leere, über denen stehen könnte, was Melville im März 1857 in Rom notiert: »An diesem Tag nichts gesehen, nichts gelernt, nichts genossen, aber einiges durchgemacht.«
Was aber genau hat er durchgemacht, wie hat er seine wenigen Erfolge und seine vielen Tragödien (darunter der Tod beider Söhne) erlebt? Darüber lässt sich spekulieren (Delbanco tut es, beredt und vorsichtig zugleich), doch wissen werden wir es nie. »Die Suche nach dem Privatmann Melville führt fast immer in eine Sackgasse«, mahnt Delbanco sich und seine Leser. Wie war Melvilles Ehe? Da helfen »die wenigen Augenzeugenberichte« und »der einzige erhaltene Brief Hermans an Lizzie (…) auch nicht richtig weiter«, und natürlich haben wir »keine Aussicht, etwas Genaues über Melvilles Sexualleben zu erfahren«. Welche Ursache hatte die Entfremdung von Hawthorne? »Wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren.« Wie wurde Melville mit der ganz freudlosen zweiten Hälfte seines Lebens fertig? »Schwarze Jahre waren dies auch in dem Sinne, dass selbst die entschlossensten Forscher kein Licht in sie zu bringen vermochten.« Fast für jede beliebige Phase dieses nicht zu beschreibenden Lebens gilt: »Über Melvilles Aktivitäten in den folgenden Monaten wissen wir nicht viel.«
Wo Delbanco nichts weiß, da weiß er sich immerhin zu helfen. Er macht etwas, was dubios, im Falle Melville aber gar nicht zu umgehen ist: Er liest das komplette Werk auf der Suche nach Spuren des nicht zu erschließenden Lebens; er spekuliert darüber, welche Handlungsdetails der frühen Romane auf realen Erfahrungen des Autors beruhen und welche frei erfunden oder aus anderen Büchern abgeschrieben sein mögen; er versucht, Charakterzüge Melvilles und der Menschen seiner Umgebung in den Figuren der Texte zu identifizieren; er schließt von den Stimmungen und Stillagen des Werks auf Gemütsveränderungen Melvilles. Dergleichen ist immer zweifelhaft; umso wichtiger ist es, jedes »vielleicht«, jedes »mag sein« und den Zweifel in Formulierungen à la »kann man sich kaum des Eindrucks erwehren« mitzulesen und nichts für wirklich unwiederlegbar zu halten.
Dies aber ist nicht der einzige Umgang, den Delbanco mit Melvilles Werk pflegt; wichtiger und ergiebiger ist der Zusammenschluss mit Melvilles Welt. Delbancos eigentliche Leistung ist die anschauliche Akribie, mit der er uns New York zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die amerikanische Politik und Gesellschaft in jener Zeit und immer wieder die zeitgenössische Debatte um die Abschaffung der Sklaverei vor Augen führt und die einzelnen Facetten des so entstehenden umfassenden Porträts der Melvilleschen Ära dann nutzt, um zeit-, gesellschafts- und kulturkritische Positionen, die in Melvilles Texten angelegt sind, auf sehr überzeugende Weise herauszuarbeiten. Voller Abscheu stand Melville vielen moralischen und politischen Verirrungen seiner Zeitgenossen gegenüber und setzte diesen Abscheu literarisch beherzt um – bisweilen wütend, bisweilen ironisch, manchmal mit mehr und manchmal auch mit weniger großer Virtuosität, oft allegorisch, aber nur selten gehemmt.
Melville reagierte in immer neuen Anläufen darauf, dass »das politische System Amerikas vor seinen Augen zugrunde ging«; Ahab ist Delbanco zufolge »der wahnsinnig gewordene amerikanische Traum«, der spätere Held Pierre hingegen eher »ein Kitsch gewordener Ahab«. Als reifste Leistungen Melvilles sieht Delbanco Moby-Dick, Bartleby, Benito Cereno und Billy Budd, und er sagt uns, warum.
Wirklich neu ist eigentlich nichts an Delbancos Melville, weder die wertende Analyse des Melvilleschen Werks noch der Rückbezug von Figuren und Handlungsabläufen auf literarische, geistes- oder zeitgeschichtliche Anregungen. Aber wir bekommen hier einen gut lesbaren und weitgehend verlässlichen Überblick über alle Facetten von Melvilles Welt an die Hand, der gleichberechtigt neben Alexander Pechmanns Herman Melville zu stehen vermag. Pechmanns Darstellung ist nüchterner, sachlicher, orientiert sich eher an geistes- als an zeitgeschichtlichen Hintergründen – wer einen bisweilen blumigen Plauderton und die Perspektive des politischen Historikers vorzieht, ist womöglich bei Delbanco an der besseren Adresse. Ärgern mag sich nur, wer die amerikanische Originalausgabe kennt: Von den dort abgedruckten knapp sechzig Abbildungen enthält uns die deutsche Ausgabe fast drei Viertel vor.
Andrew Delbanco: Melville
Biographie; aus dem Englischen von Werner Schmitz; Hanser Verlag, München 2007; 470 S., 34,90
DIE ZEIT, 10.01.2008 Nr. 03
03/2008
Andrew Delbancos neues Buch über Herman Melville kann die Biografie des amerikanischen Erzählers nicht ergänzen. Dafür lockt es uns ins politisch bewegte New York des 19. Jahrhunderts
Von Friedhelm Rathjen
Für Biografen ist Herman Melville Chance und Albtraum zugleich. Eine Chance ist er, weil sein Leben alles enthält, was man für eine ebenso spannende wie vielschichtige Biografie braucht: Höhenflüge und Frustrationen, Erfolge und nachhaltiges Scheitern, abenteuerliche Reisen in zuvor gänzlich unbekannte Weltgegenden und Jahre häuslicher Stille, turbulente Zeiten und eine stetig sich wandelnde schriftstellerische Kreativität, die auf diese Zeiten reagiert. Ein Albtraum aber ist das Unterfangen, über diese zuzeiten schillernde Figur, zuzeiten stumpfe Figur eine Biografie zu schreiben, weil über das grobe Gerüst hinaus gar so viel von ihm nicht bekannt ist und weil das wenige, was man herausbekommen kann, schon bekannt und dokumentiert ist.
Alles, was bekannt ist, steht in der unübertrefflichen Melville-Biografie von Hershel Parker, zwei großformatigen Tausendseitern, die vermutlich nie auf Deutsch erscheinen werden. Das müssen sie auch nicht, denn die wahren Melville-Fans lesen Parkers Wälzer im Original, und für alle anderen lässt sich das, was darin steht, auch sehr viel knapper darstellen. Alexander Pechmann kommt in seinem 2003 erschienenen Buch über Melvilles Leben und Werk mit 350 Seiten aus; unwesentlich mehr benötigt Andrew Delbanco für sein Buch über – wie der Untertitel der Originalausgabe richtig formuliert – Melvilles Welt und Werk, das nun deutsch unter der irreführenden Bezeichnung Biographie erschienen ist. Delbanco schreibt (wie Pechmann) ausführlich über Melvilles Romane, Erzählungen und Gedichte, die er uns in bisweilen etwas langatmigen deutenden Nacherzählungen präsentiert, und er schreibt (ausführlicher als Pechmann) über die Welt, in der Melville lebte. Melvilles Leben selbst ist über weite Strecken nur indirekt präsent, gewissermaßen als Membran, die die Grenze zwischen Welt und Werk markiert: Zeitgeschichte verwandelt sich in Literatur, weil ein Autor in ihr lebt und aus ihr heraus schreibt. Wo aber bleibt dabei sein Leben?
»Die Ereignisse seines Alltagslebens« ließen sich »nicht einmal mehr ansatzweise ermitteln«, bekennt Delbanco gleich auf den ersten Seiten und macht Hoffnung, er könne uns »allenfalls an den Rand seines Innenlebens« führen. Dass die Faktenlage spärlich ist, beklagt Delbanco gar nicht weiter, ist es doch keineswegs sein Ziel, »den Vorrat an Fakten über Melvilles Leben zu vergrößern« – er erzählt knapp das wenige nach, was sicher bekannt ist, und wendet sich sodann dem Werk und seiner Bedeutung zu.
Wir erfahren also wieder, dass Melville in eine großspurige Familie hineingeboren wurde, die jedoch nach Bankrott und Tod des Vaters in nimmerendende Bedrängnis geriet, weswegen der junge Hermann (der seinem Vater zufolge ohnehin »sprachlich zurückgeblieben« war und über »eine etwas schwerfällig Auffassungsgabe verfügte«) nur eine dürftige Schulausbildung erhielt und sich früh nach eigenen Einkünften umsehen musste. Wir hören von den fünf Jahren zur See, die ihn bis in die Südsee (vielleicht auch »unter Kannibalen«) führten und anschließend ihren Niederschlag in den Romanen Typee und Omoo fanden, aber wir werden »nie erfahren, wie sehr Melville sich für Typee auf eigene Erinnerungen verließ«. Wir lesen von Melvilles allzu kurzer Karriere als Erfolgsschriftsteller und seiner Freundschaft mit dem Kollegen Hawthorne, aber »Einzelheiten ihrer Gespräche werden wir nie erfahren«, und auch eine »detaillierte Rekonstruktion« der Entstehung des Meisterwerks Moby-Dick sei »nicht möglich, da weder das Manuskript noch irgendwelche Notizen erhalten sind«. Wir müssen uns erneut der Tragödie des berserkerhaft schaffenden Autors aussetzen, der mit seinem Meisterwerk bei Publikum und Kritik scheitert, für das wenige, was er danach noch veröffentlicht, für verrückt erklärt wird und die letzten Jahrzehnte seines Lebens verdämmert, aus finanziellen Gründen gezwungen, einen schlecht bezahlten Posten als Zollinspektor anzunehmen, für den er denkbar ungeeignet ist, da ihn die gewerbeübliche Bestechlichkeit anwidert.
Viele dieser letzten Jahre verwendet er auf die Niederschrift des Versepos Clarel, »eine heilsame Disziplin für einen Schriftsteller, dessen Erfindungskraft nahezu erschöpft war«. Clarel erscheint in einer Auflage von 350 Exemplaren, von denen ein Drittel verkauft, der Rest eingestampft wird; den Gedichtband Timoleon lässt Melville kurz vor seinem Tod in einer Auflage von 25 Exemplaren drucken; selbst Moby-Dick trägt ihm zu Lebzeiten keine 600 Dollar ein.
Die äußere Bilanz dieses Schriftstellerlebens sieht desolat aus: zwanzig bedrückte Jugendjahre, fünf exzessive Wanderjahre, zwölf öffentliche Jahre als zunächst erfolgreicher, dann verhöhnter Schriftsteller, schließlich dreieinhalb Jahrzehnte der Leere, über denen stehen könnte, was Melville im März 1857 in Rom notiert: »An diesem Tag nichts gesehen, nichts gelernt, nichts genossen, aber einiges durchgemacht.«
Was aber genau hat er durchgemacht, wie hat er seine wenigen Erfolge und seine vielen Tragödien (darunter der Tod beider Söhne) erlebt? Darüber lässt sich spekulieren (Delbanco tut es, beredt und vorsichtig zugleich), doch wissen werden wir es nie. »Die Suche nach dem Privatmann Melville führt fast immer in eine Sackgasse«, mahnt Delbanco sich und seine Leser. Wie war Melvilles Ehe? Da helfen »die wenigen Augenzeugenberichte« und »der einzige erhaltene Brief Hermans an Lizzie (…) auch nicht richtig weiter«, und natürlich haben wir »keine Aussicht, etwas Genaues über Melvilles Sexualleben zu erfahren«. Welche Ursache hatte die Entfremdung von Hawthorne? »Wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren.« Wie wurde Melville mit der ganz freudlosen zweiten Hälfte seines Lebens fertig? »Schwarze Jahre waren dies auch in dem Sinne, dass selbst die entschlossensten Forscher kein Licht in sie zu bringen vermochten.« Fast für jede beliebige Phase dieses nicht zu beschreibenden Lebens gilt: »Über Melvilles Aktivitäten in den folgenden Monaten wissen wir nicht viel.«
Wo Delbanco nichts weiß, da weiß er sich immerhin zu helfen. Er macht etwas, was dubios, im Falle Melville aber gar nicht zu umgehen ist: Er liest das komplette Werk auf der Suche nach Spuren des nicht zu erschließenden Lebens; er spekuliert darüber, welche Handlungsdetails der frühen Romane auf realen Erfahrungen des Autors beruhen und welche frei erfunden oder aus anderen Büchern abgeschrieben sein mögen; er versucht, Charakterzüge Melvilles und der Menschen seiner Umgebung in den Figuren der Texte zu identifizieren; er schließt von den Stimmungen und Stillagen des Werks auf Gemütsveränderungen Melvilles. Dergleichen ist immer zweifelhaft; umso wichtiger ist es, jedes »vielleicht«, jedes »mag sein« und den Zweifel in Formulierungen à la »kann man sich kaum des Eindrucks erwehren« mitzulesen und nichts für wirklich unwiederlegbar zu halten.
Dies aber ist nicht der einzige Umgang, den Delbanco mit Melvilles Werk pflegt; wichtiger und ergiebiger ist der Zusammenschluss mit Melvilles Welt. Delbancos eigentliche Leistung ist die anschauliche Akribie, mit der er uns New York zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die amerikanische Politik und Gesellschaft in jener Zeit und immer wieder die zeitgenössische Debatte um die Abschaffung der Sklaverei vor Augen führt und die einzelnen Facetten des so entstehenden umfassenden Porträts der Melvilleschen Ära dann nutzt, um zeit-, gesellschafts- und kulturkritische Positionen, die in Melvilles Texten angelegt sind, auf sehr überzeugende Weise herauszuarbeiten. Voller Abscheu stand Melville vielen moralischen und politischen Verirrungen seiner Zeitgenossen gegenüber und setzte diesen Abscheu literarisch beherzt um – bisweilen wütend, bisweilen ironisch, manchmal mit mehr und manchmal auch mit weniger großer Virtuosität, oft allegorisch, aber nur selten gehemmt.
Melville reagierte in immer neuen Anläufen darauf, dass »das politische System Amerikas vor seinen Augen zugrunde ging«; Ahab ist Delbanco zufolge »der wahnsinnig gewordene amerikanische Traum«, der spätere Held Pierre hingegen eher »ein Kitsch gewordener Ahab«. Als reifste Leistungen Melvilles sieht Delbanco Moby-Dick, Bartleby, Benito Cereno und Billy Budd, und er sagt uns, warum.
Wirklich neu ist eigentlich nichts an Delbancos Melville, weder die wertende Analyse des Melvilleschen Werks noch der Rückbezug von Figuren und Handlungsabläufen auf literarische, geistes- oder zeitgeschichtliche Anregungen. Aber wir bekommen hier einen gut lesbaren und weitgehend verlässlichen Überblick über alle Facetten von Melvilles Welt an die Hand, der gleichberechtigt neben Alexander Pechmanns Herman Melville zu stehen vermag. Pechmanns Darstellung ist nüchterner, sachlicher, orientiert sich eher an geistes- als an zeitgeschichtlichen Hintergründen – wer einen bisweilen blumigen Plauderton und die Perspektive des politischen Historikers vorzieht, ist womöglich bei Delbanco an der besseren Adresse. Ärgern mag sich nur, wer die amerikanische Originalausgabe kennt: Von den dort abgedruckten knapp sechzig Abbildungen enthält uns die deutsche Ausgabe fast drei Viertel vor.
Andrew Delbanco: Melville
Biographie; aus dem Englischen von Werner Schmitz; Hanser Verlag, München 2007; 470 S., 34,90
DIE ZEIT, 10.01.2008 Nr. 03
03/2008
(Montag, 14. Januar 2008)