Ist speedreading sinnvoll?
DIE ZEIT


Eine Dreiviertelstunde für Harry

Schneller lesen mit Hilfe von Power- oder Visual Reading? Ein Selbstversuch im Dschungel der Schnell-Lesekurse.

Von Tonio Postel

Genau 47 Minuten soll Anne Jones, die Weltmeisterin im Schnelllesen, für den letzten Harry Potter-Band gebraucht haben. Alles eine Frage der Technik, sagt sie. Das will ich auch können. Was ließe sich da an Zeit sparen! Bildungslücken würden endlich geschlossen: Ein paar Wochen für die Klassiker der Weltliteratur, ein paar Tage für den Brockhaus. Und zwischendurch zehn Minuten für die ZEIT.

Übungsprogramme für schnelleres Lesen gibt es genug. Ich versuche es mit PoweReading. »Doppelt so schnell lesen bei gleichem Textverständnis. Garantiert!« steht auf der DVD-Hülle. Vorn reitet der Autor und Schnelllesetrainer Zach Davis in Anzug und Krawatte mit einem Surfbrett auf einer Welle aus Wörtern.

Zum Start des Programms wird nicht gelesen, sondern erst einmal viel gesprochen: Davis steht vor einem Flipchart und erklärt: Normalleser können etwa 200 Wörter pro Minute verarbeiten, Turboleser machen es nicht unter 1500 bis 2000. Davis spricht langsam und prononciert. Am Anfang eines Satzes faltet er seine Hände, um sie am Ende wieder auszubreiten. Wer schnell lesen lernen will, muss offenbar erst sehr langsames Sprechen ertragen.

Endlich kommt die erste Übung: Sie soll meine Lesegeschwindigkeit und mein Textverständnis messen. Ich lese den vorgegebenen Abschnitt, notiere die benötigte Zeit und beantworte danach Fragen zum Inhalt. 2,48 Minuten habe ich gebraucht, von zehn Antworten waren sieben richtig. Das ist okay, aber jetzt soll es besser werden.

Davis verrät seinen ersten Trick: Da sich das Auge beim Lesen nicht gleichmäßig von einem Wort zum nächsten bewege, sondern vor und zurück springe, gehe Zeit verloren. Ein Stift oder ein Finger, der unter der zu lesenden Zeile entlangfährt, soll das Auge einfangen und dem Hin und Her ein Ende machen. Mit dem Finger auf dem Text fühle ich mich wieder wie in der Grundschule.

Beim nächten Tipp soll die Blickspanne effektiver genutzt werden. Etwa zwei Zentimeter sei diese breit, sagt der Lesetrainer, »wir verschenken die Hälfte davon«. Sein Vorschlag: weiter innen in der Zeile beginnen zu lesen. »Ignoriere den Rand.« Genau diese Ansage macht ihn für mich erst interessant, und ich blicke instinktiv in die Verbotszone.

Dann kommt die »Drill-Einheit«: Eine sogenannte Hochgeschwindigkeitsübung steht an. Das Gehirn soll, ähnlich einem Muskel im Fitnessstudio, kontinuierlich »übertrainiert« werden, um das Lesetempo dauerhaft zu steigern. Meine Werte bleiben letztlich bei allen fünf Geschwindigkeitsmessungen in etwa gleich. Aber den Inhalt kann ich mir nicht mehr merken, zu sehr konzentriere ich mich darauf, die Powerlese-Regeln zu beachten. Aber Trainer Davis tröstet mich per Video: »Man muss nicht 100 Prozent eines Textes verstehen.« Es genügten die Schlüsselwörter.

Das reicht mir aber nicht. Überschriftenwissen habe ich schon, und von Harry Potter sollte mehr hängen bleiben als Quidditch und Gleis neundreiviertel. Schließlich will ich kein Bildungsmuggel bleiben.

Ich versuche es mit Visual Reading. Die Methode ist ähnlich, nur die Übungstexte sind komplizierter, richtige kleine Fachartikel. Die Fragen kann ich kaum beantworten. Dafür soll ich nach jeder Übung meinen Puls messen. Wozu das gut ist, erfahre ich nicht.

Mein Textverständnis liegt bei bescheidenen 20 Prozent. Bald schon wird klar, dass ich mich, nach den Maßstäben des Visual Reading, als »schwächeren Leser« einstufen muss. Ansonsten ähneln die Ratschläge jenen des PoweReading, auch wenn alles etwas wissenschaftlicher, ja: umständlicher, wirkt.

Der Autor Christian Grüning, der bereits Kinder einer Hochbegabtenförderung für die Gedächtnisweltmeisterschaften trainierte, spricht von chemischen Reaktionen, die beim Lesen und Verstehen ablaufen. Es kommen viele Begriffe vor wie »Interne Repräsentationen«, »Neurologische Bits«, »Regressionen« oder »visueller Kanal«. Ich erfahre, welche Aufgaben beim Lesen vom limbischen Gehirn, vom Stammhirn oder vom Neocortex übernommen werden. Eine Erkenntnis lautet: »Beim zügigen Lesen hat man kaum noch Möglichkeiten abzuschweifen, ist voll und ganz mit dem Lesevorgang beschäftigt«, wohingegen das Lesen, »wie man es aus der Schule kennt«, ein »ideales Schlafmittel« sei.

Ich gebe mich geschlagen und frage einen Fachmann: Kann man sein Ergebnis anhand solcher Anweisungen tatsächlich verbessern? Ernst Pöppel, Neurowissenschaftler am Institut für Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hält allein den Ansatz für »ziemlich dämlich«. Wenn man etwas wirklich verstehen wolle, sei das oberste Gebot die Langsamkeit: »Dann muss ich Wort für Wort lesen.«

Pöppel kritisiert, dass wir »schon in der Schule auf Schnelligkeit getrimmt« würden. Das sei falsch. »Wir verwechseln Schnelligkeit oft mit Intelligenz.« Man solle sich Zeit lassen für einen Text, um ihn umfassend verstehen zu können. Nur wenn man in etwa wisse, was einen inhaltlich erwarte, beispielsweise bei einer Doktorarbeit, sei ein »hypothesenorientiertes« Lesen, also ein Überfliegen des Textes nach Stichwörtern, plausibel.

Ich werde mich wohl von der Idee verabschieden müssen, so schnell lesen zu können wie Anne Jones, und konzentriere mich lieber wieder auf einen anderen Aspekt beim Lesen: den Genuss. Davon war in keinem der Programme die Rede.

DIE ZEIT, 22.11.2007 Nr. 48

48/2007